Beklemmend intensiv

Am 26. Oktober zeigten Eurythmistinnen, Sprecherinnen und Musiker am Goetheanum Werke von Dmitri Schostakowitsch in Musik, Wort und Eurythmie. Entstanden war das Programm bereits zu Schostakowitschs 100. Geburtstag 2006 als ein russisch-niederländi-sches Musik- und Eurythmieprojekt. Christian Richter nahm eine Gegensätze herausarbeitende Interpretation wahr.

Aus der Ferne heraus ertönen Bratschenklänge, das Leben betrachtend, das eigene, vergangene. Ein Klavier begleitet sie durch dramatische, gespenstische Episoden hindurch oder ergreift selbst die Führung, doch bleiben beide über die Geschehnisse erhaben. Plötzlich treibt ein Hier-und-Jetzt die beiden Stimmen zu einem makabren, lustig-leichten Tanz. Schließlich singen sie sich warm und herzergreifend zu einer überirdischen Klarheit hin, ohne leicht oder zart zu werden. Mit der Sonate für Bratsche und Klavier op. 147 wird das Programm eröffnet. Diesem, seinem letzten Werk darf der Zuhörer noch ganz Ohr sein. Im Hören entstehen Bilder, innere Bewegungen, Farben.

Klänge wie Eiswinde

Dann ergreift die Eurythmie den Raum. Man sieht Schostakowitschs Ringen und Hadern mit sich und seinem vor- und fremdbestimmten Leben im Gedicht <Hamlet> von Boris Pasternak. Wunderbar karg und kraftvoll wird der Monolog bewegt. Zum Eindruck der Musik gesej. lt sich ein Bild des Menschen, der sie schuf.

So ist der Zuschauer doppelt bereit, den nahtlosen Übergang zum Streichquartett Nr. 13 mitzugehen und einzutauchen in das bizarre, resignative Bild, das Schostakowitsch hier, in einem seiner späten Werke, vom Tode malt. Den vier russischen Eurythmistinnen gelingt es dabei, den Raum in einen kalten, scharfen Kristall zu verwandeln, in dem die mal abge-setzt-schlagenden, mal gezogenen schrägen Klänge durch die Leiber ziehen wie Eiswinde. Die Exaktheit und Strenge der Form wird unterstützt von einer Beleuchtung, die oft eher ausstellt als einbettet. Als dann, die Musik zu einem hektischen Marsch ansetzt, werden die Bewegungen auf der Bühne derart grotesk, dass man gemeinsam die an ihre Grenzen getriebene Musik und Eurythmie erleben kann. Einzig die Bratsche erobert sich zum Ende des Quartettes hin einen lebendigen musikalischen Raum, der losgelöst von der Härte des Todes bestehen kann: Eurythmisch entsteht wieder Atem zwischen toten Säulen.

Mit einem Gedicht Mandelstams wird anhand von Schwere und Zartheit das Thema Polarität und Steigerung ergriffen.

Die zwei Sprecherinnen, die gemeinsam, einzeln oder echogleich versetzt, von beiden Seiten der Bühne sprechen, verflechten anschaulich mit den Eurythmistinnen und der partiellen Beleuchtung die Gegensätze und geben so einmal mehr dem Gedicht eine passende Form und der folgenden Musik einen bereiteten Boden.

Kräftig russisch, zart niederländisch

Denn von Gegensätzen, die sich umspielen und ergänzen, lebt das Klaviertrio Nr. 2, einem rüheren Werk. Den ersten Satz, ein verträumt-schwebendes, zartes Andante, bewegen nun die drei Niederländerinnen des Projektes weich und — nach dem Vorangegangenen — scheinbar formlos. Sie verflechten sich durch die folgenden Sätze, einem hysterisch galoppierenden Allegro con brio, einem lyrisch-klagenden Largo und dem abschließenden scherzhaft taktierenden Allegretto immer mehr mit ihren vier Kolleginnen, sodass sich die strenge, kräftige russische Form und das freie, zarte niederländische Gefühl eurythmisch begegnen und durchdringen.

Hervorragend temperamentvoll und souverän zaubern die Moskauer Musiker des Dsch-Trios und -Quartetts die Werke vor das Ohr. So führt das Zusammenspiel von Gedichten, Musik, Eurythmie und Licht eine beklemmend intensive Anwesenheit des leidenden und kämpfenden Schostakowitschs.
Christian Richter

Die Uhren tief in uns

Bertrand Badiou, Hans Holler, Andrea Stoll, Barbara Wedemann: Herzzeit — Ingeborg Bachman, Paul Celan

Das Genre des Briefromans bietet die Möglichkeit, persönliche Hintergründe zu erfahren, ohne sie explizit vor Augen geführt zu bekommen. Der Leser darf Einzug halten in Intimes, Zwischenmenschliches. Beim eben veröffentlichten Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, <Herzzeit>, ist zudem ein weiterer Schatz verborgen: Die Briefe, die sich in Sprachgroßtaten äußern, bergen Bezüge, welche manches Gedichtwort entschlüsseln lassen.

Paul Celan kam auf seiner Flucht 1948 nach Wien. Als osteuropäischer Jude aus den Tiefen der Bukowina stammend traf er hier auf die mit NSDAP-Mit-gliedsvater aufgewachsene Ingeborg Bachmann. Mit der entflammenden Liebe setzt der Briefaustausch ein. Celan zieht von Wien nach Paris, doch in Gedanken bleiben sich die beiden Lyriker nah. Bachmann ist gerade 22 Jahre alt, Celan sechs Jahre älter. In intensiven Liebesbekundungen treffen sich Briefinhalte; in oft beachtlichen Abständen wenden sich beide zueinander.

Missverständnisse

Doch bald schon fangen die Briefe an, Missverständnisse zu bergen und die Entfernung Wien-Paris samt den unterschiedlichen Lebensentwürfen führt zu Spannungen. Wortkämpfe, existenzielles Ringen um Verständnis, das weit über ein einfaches Verstehen hinausweist. Auf höchstem sprachlichem Niveau wird aneinander vorbei geschrieben. Die Liebesphase scheint zur Neige zu gehen. Celan, der viele Briefe un beantwortet lässt, schreibt: “Wir wissen genug voneinander, um uns bewusst zu machen, dass nur die Freundschaft zwischen uns möglich bleibt. Das andere ist unrettbar verloren.” Bachmann antwortet postwendend: “Ich habe alles auf eine Karte gesetzt und habe verloren.”